Stuttgarter Zeitung 09.07.2012
Autorin Annina Baur.
Gekonnter Stilmix und kleine Bausünden.
Lehenviertel – Bei einer Führung durch den Stadtteil wird der Blick für Details und Denkmalschutz geschärft.
Ein altarartiger Aufsatz über dem Hausportal wie in der Rennaissance, ein spätgotisch anmutendes Rippengewölbe, Verzierungen über den Fenstern aus dem Jugendstil und Schmuckfachwerk an einer Dachgaube. Was sich nach einem wilden Stilmix anhört, fügt sich im Lehenviertel zu einem harmonischen Ganzen. „Es mag vielleicht sinnlos sein, aber es ist schön anzusehen”, sagte Wolfgang Jaworek vor dem Gebäudeensemble an der Liststraße 24 bis 28, an dem er all diese und noch mehr Stilrichtungen zeigte. Auch er selbst entdecke jeden Tag neue Details, wenn er den Blick an den Häusern nach oben schweifen lasse. Der Grünen-Bezirksbeirat führte am Samstag im Rahmen der Geschichtswerkstatt rund drei Dutzend Interessierte durch das Lehenviertel, wo er selbst seit 30 Jahren lebt.
Nicht der wissenschaftliche Hintergrund, sondern der Detailreichtum war Gegenstand des Spaziergangs durch den mit heute rund 11 000 Einwohnern größten Stadtteil des Stuttgarter Südens. „Ich will den Blick fürs Detail schärfen”, sagte Jaworek. Es seien gerade die kleinen Verzierungen, die geschwungenen Fensterrahmen und die abwechslungsreich gestalteten Erker, die dafür sorgten, dass sich viele Menschen in einem historisch gewachsenen Viertel wohler fühlten als in einer gesichtslosen Neubausiedlung. „Damals wurden die Häuser noch auf Fußgänger zugeschnitten und nicht auf Autofahrer”, sagte Jaworek bei dem Rundgang durch das Gebiet zwischen Immenhofer-, Filder- und Zellerstraße. Details sind es auch, die den Bezirksbeirat manchmal ärgern, wenn er durch sein Viertel spaziert, sagt er und zeigt zum Beweis auf ein unter Denkmalschutz stehendes Gebäude, neben dessen historischer Eingangstür eine moderne weiße Klingelanlage angebracht ist. Verteufeln möchte Jaworek die Mischung von Tradition und Moderne aber nicht – im Gegenteil: Sehr gelungen findet er zum Beispiel eine Penthouse-Wohnung mit großer Glasfassade, die auf ein historisches Haus in der Immenhofer Straße aufgesetzt wurde und sich harmonisch ins Stadtbild einfügt.
Zeitdruck beim Bauen lässt Jaworek übrigens nicht als Grund für gleichförmige Fassadengestaltung vieler moderner Wohneinheiten gelten: „Der größte Teil des Lehenviertels wurde innerhalb von zehn bis 15 Jahren gebaut.” Im Jahr 1900 etwa hätten an der Liststraße gerade einmal drei Häuser gestanden. Auch wenn die Vorstellung heute schwer fällt: „Wir laufen eigentlich mitten durch Streuobstwiesen und Weinberge”, sagte Jaworek zu Beginn der Führung. Bis ins 19. Jahrhundert hinein seien nur vereinzelte Häuser in dem vorwiegend landwirtschaftlich genutzten Gebiet gestanden. Ein paar dieser Handwerker- und Wengerterhäuser sind noch erhalten, zum Beispiel das Gebäude, in dem die Kochenbas ist. Charakteristisch für die schlichten, spätbiedermeierlichen Handwerkerhäuser sind ein gemauertes Erdgeschoss, en der Straße zugewandter Giebel und maximal zwei Stockwerke.
Wesentlich prächtiger muten die später erbauten Gebäude im Lehenviertel an – zumindest von vorn betrachtet. Vorne hui, hinten pfui: Das sei in der Zeit des Wirtschaftswunders durchaus gang und gebe gewesen, sagte Jaworek. Ein Blick in die Hinterhöfe sei aber nicht nur deshalb lohnenswert. „Häufig finden sich in zweiter Reihe weitere Häuser.” Meist wurden diese als Werkstätten genutzt, teilweise aber auch als Wohnungen und Firmensitze.