Zeitungsartikel STZ/STN vom 27.April 2015. Autorin Eveline Blohmer.
Unbekümmerte Architektur sorgt bisweilen für Kummer.
S-Süd: Der Enkel von Paul Bonatz führt durch die Lerchenrainschule. Dabei geht es um das Gebäude und Inhaltliches.
Zwei Führungen zum Preis von einer. So könnte der Titel für den Gang durch die Lerchenrainschule lauten, wäre die Veranstaltung der Geschichtswerkstatt Stuttgart-Süd nicht kostenfrei, abgesehen von einer freiwilligen Spende für die Vereinsarbeit. Denn die rund 40 Menschen, die sich an diesem Samstagnachmittag vor dem imposanten Gebäude an der Kelterstraße einfinden, bekommen nicht nur, was draufsteht, also nicht allein eine Führung von Peter Dübbers, dem Enkel und Nachlassverwalter von Paul Bonatz. Nach Bonatz’ Plänen wurde die Schule 1908/09 erbaut. Die einstigen und gegenwärtigen Schüler und Lehrer und die aus anderen Gründen an der Lerchenrainschule Interessierten, darunter der Alt-Stadtrat und ehemalige Bezirksvorsteher Siegfried Bassler, erhalten auch Einblick in Inhaltliches: Der Konrektor Wolfgang Peters berichtet von dem, womit sich die Leitung der Grund- und Werkrealschule hinter dem von Bonatz entworfenen Rektorenbalkon beschäftigen muss. Es geht in der einstündigen Führung um die „Stuttgarter Schule“ in zweierlei Hinsicht.
Wenn Dübbers von der „Stuttgarter Schule“, die sein Großvater vertrat, erzählt, benützt er oft das Adjektiv „unbekümmert“. Etwa in Bezug auf den asymmetrischen Anbau am linken Flügel, in dem sich heuer die Schüler mit einem großzügigen Blick über Heslach und darüber hinaus musisch bilden. Oder hinsichtlich der Rundbögen in den beiden Treppenhäusern. Sein 1877 geborener Großvater habe ohnehin geplant, wie er es in seinem eigenen Architekturstudium niemals gedurft hätte.
Unbekümmert dürfte Bonatz auch beim Planen des Schulhofs gewesen sein: als Terrasse auf der Turnhalle, umgeben von einem Geländer, das die Schüler vor dem Sturz in die Tiefe schützen soll. Dieses architektonische Detail, das sich der Architekt des Stuttgarter Bahnhofs ausdachte, „hat einen als Lehrer oft in Angst versetzt“, sagt Wolfgang Peter. Aber die unbekümmerte Architektur Bonatz’ hat nach Ansicht des Pädagogen auch ihre Vorteile, beispielsweise die „großzügige Bemessung der Flure“, von der Dübbers spricht und sich die Geführten ein Bild machen können.
Kummer scheint Peter viel mehr zu bereiten, was er vor der mit Mathe-Formeln versehenen Tafel im Klassenzimmer 208 erzählt: „In ihrer Blütezeit hatten wir 660 Schüler, jetzt sind es noch 330. Und im Zuge der Gemeinschaftsschule kriegen wir dieses Jahr nicht einmal mehr eine fünfte Klasse zusammen.“
Doch die Lerchenrainschule hat schon viel durchgestanden – mitunter Ereignisse, die sie im Wortsinn in ihren Grundfesten erschütterten. So etwa der erste Tag-Angriff durch die Amerikaner 1943, an den sich eine ehemalige Schülerin erinnert. Ihre ersten Schuljahre hat die 80-Jährige an der Lerchenrainschule verbracht, und am Tag des Angriffs „kamen die Fenster auf uns runter, und wir wurden auf den Gang gelegt“. Auf den Gang, in dessen charakteristischen Garderobennischen sich Schüler gern handschriftlich verewigen.
„Die Denkmalpflege muss bei einer Weiternutzung immer wieder Kompromisse eingehen“, sagt denn auch Wolfgang Jaworek, Grünen-Bezirksbeirat und Mitglied im Geschichtsverein. Zu diesen Kompromissen gehört wohl, dass ein Schultisch neben einem der historischen Trinkwasserbrunnen im Schulgebäude aufgestellt wird – auch, wenn sich einer der Führungsteilnehmer in Sorge um die ästhetische Ausbildung der Kinder daran stört.