Vom Drogenspot zum urbanen Wohnzimmer
von Petra Mostbacher-Dix
Die Geschichte des Marienplatzes ist voller Höhen und Tiefen. Die Geschichtswerkstatt hat sie aufbereitet.
Eine Quizfrage kann nie schaden: Welches sind die ältesten Häuser am Marineplatz? Gespannt schaut Wolfgang Jaworek von der Geschichtswerkstatt Süd auf die Zuhörenden, die sich zur Führung versammelt haben. „Nein, nicht der Kaiserbau!“, sagt Jaworek. „Aber die Richtung ist schon ganz gut“, fügt er hinzu, als eine Frau auf den Bau schaut, in dem sich einst der Göckelesgriller Wienerwald befand: der älteste erhaltene Bau, 1884 entstanden, klärt er auf. Zu den betagteren Ensembles gehören zudem das Haus gegenüber und das Eckhaus, das wie ein Tortenstück zwischen Hohenstaufen- und Tübinger Straße liegt. Erst nach den 1870-Jahren wuchsen Stuttgart und Heslach zusammen, obschon Heslach zuvor Stadtbezirk war.
Im Zeichen der Zacke
Die Entwicklung des Marienplatzes – zuvor mit allerlei Schrebergärtchen – könne man in fünf Epochen einteilen, erzählt Jaworek. Die erste beginne vor 1870, als Stuttgart am Wilhelmsplatz endete, man aber unliebsame Manufakturen vor die Stadttore drängte, etwa die geruchsintensiven Gerbereien. An der Stelle des Marienplatzes befand sich eine Pferdevorspannstation. „Man musste umspannen, dort ging es über die steile alte Weinsteige auf die Filder hinauf.“ Zum Marienplatz wurde der Ort 1876: Der Park, der dort angelegt wurde, bekam seinen Namen nach der Prinzessin Marie von Waldeck-Pyrmont, mit der sich der spätere König Wilhelm II. verlobt hatte und die im Kindbett versterben sollte.
Von den 1880ern an habe sich dann ein lebendiges Quartier entwickelt. Der Marienplatz wurde zum Verkehrsknotenpunkt.“ Die Zahnradbahn, die „Zacke“, 1884 von Kessler und Kühner geplant und gebaut, trug ebenfalls dazu bei; 1937 wurde der Bahnhof vom heutigen Theater Rampe an den Marienplatz verlegt. Auf diesem stand von 1892 bis 1916 ein Zirkusgebäude. Der Hangleiterscher Zirkus – von Hofwerksmeister Albert Hangleiter konzipiert – fasste 3500 Zuschauer, war beheizt, elektrisch beleuchtet; kurz, er galt als modernste Manege im Reich. Wer Rang und Namen hatte, gastierte – oder schaute zu. Wegen mangelnden Brandschutzes wurde das Haus 1916 abgerissen.
Cancan im Kessel
Zu den Höhepunkten gehörte der 5. Oktober 1912, der Kaiserbau wurde eingeweiht – mit „Künstlerkapelle“ und Vorführung im „schönsten Lichtspielsaal der Residenz“. Gezeigt wurde der stumme Blockbuster „Im goldenen Käfig“ mit Cancan-Tänzerin Madame Saharet, live begleitet. Die Architekten Woltz & Bihl hatten den Kaiserbau im neoklassizistischen Stil entworfen, nach Wilhelm II benannt. „Der neueste Schrei!“, schmunzelte der Historiker. Wurde doch darin ein Automatenrestaurant in Jugendstildekor betrieben: Aus Vitrinen konnte der Gast sich Kuchen und Semmeln nehmen, an Automaten Getränke zapfen.
Unter der Diktatur der Nationalsozialisten war Schluss mit modernen Zeiten und Romantik: Aus dem Marienplatz wurde der Platz der SA, unter ihm entstand ein Bunker, darauf Kleingärten. Nach dem Krieg war dort ein Hospiz der Caritas – 50 Pfennig kostete eine Nacht. Später sollte das „Anlägle“ verwuchern und zum Drogenumschlagplatz werden – bis der Marienplatz vom Architekten Heinz Lermann der Freien Planungsgruppe 7 neu gestaltet, 2003 mit Freitreppe wiedereröffnet.
Anfangs für seinen Purismus als Betonwüste kritisiert, umringt den Platz mittlerweile eine hufeisenförmige Allee, hat Wasserspiele und Bolzplatz. „Der Platz funktioniert, die Menschen haben ihn übernommen, das dauert eben manchmal“, so Anan Mohammed, der an der Universität Stuttgart über den Marienplatz im Fach Integrated Urbanism and Sustainable Design (IUSD) seinen Master schrieb. Der Architekt habe ihn angelegt, wie ein Platz sein müsse: als öffentlicher Raum und urbanen Treffpunkt für Menschen, die ihn bespielen.