STZ/STN 31.Juli 2020 – ein Artikel von Elke Rutschmann
Wolfgang Jaworek von der Geschichtswerkstatt Stuttgart Süd taucht in die Historie des Lehenviertels ein
Wolfgang Jaworek hat es sich auf der Sitzbank vor einer Thüringischen Maulbeere bequem gemacht. Der 73-Jährige von der Geschichtswerkstatt Stuttgart-Süd ist in seinem Element und hätte sich mit der Wanderbaumallee an der Liststraße keinen besseren Ort aussuchen können, um in die Historie des Lehenviertels einzutauchen.
Wo die mobilen Bäume stehen, drängt sich heute Haus an Haus. Noch vor 130 Jahren waren dort jede Menge Obstgärten; die Weinberge reichten weit in Stuttgarts Süden hinein, und von den Hängen suchten sich diverse Bäche ihren Weg in die Stadt. Überhaupt war das Gebiet zwischen dem Österreichischen Platz und Heslach nur dünn besiedelt. Nur das alte Haus neben dem Fangelsbachfriedhof war schon da, wo sich Stuttgarts älteste Weinstube, die Kochenbas, niedergelassen hat. Und schnell hat Wolfgang Jaworek auch die Anekdote bereit, wie die schwäbische Familieninstitution zu ihrem Namen gekommen ist. Damals betrieb die Familie Koch die Weinstube. Einige der Wengerter waren mit der Wirtin verwandt und auf dem Weg zur Wirtschaft sagten sie stets:„Wir gehen zur Bas, zur Kochenbas“.
Wolfgang Jaworek geht in seinem historischen Kaleidoskop vor allem auf die Geschichten der Häuser ein – weniger auf die der Personen. „Das ist quellenhistorisch immer ein bisschen problematisch, weil vieles nicht wirklich nachweisbar ist“, sagt der gebürtige Freiburger, der seit 40 Jahren in Stuttgart lebt.
Urkundlich erstmals erwähnt wurde das Lehen 1304; im Zuge der Stadterweiterung wurde es ab 1895 geplant und gebaut. Die Liststraße taucht 1897 in den historischen Adressbüchern der Stadt auf, die man in der Württembergischen Landesbibliothek einsehen kann. Namenspate der Straße ist Friedrich List, ein Eisenbahnpionier und einer der bedeutendsten deutschen Wirtschaftstheoretiker des 19. Jahrhunderts. Sein in Stein gehauenes Porträt findet man am Haus Nummer 35.
Wer mit offenen Augen durchs Viertel geht, kann noch viel mehr erkennen. Es sind vor allem die Details, die aus den Gründerzeiten erhalten geblieben sind: Haustüren, Klingelschilder oder Fußabstreifer. Konzipiert wurden sie meist nach demselben Muster: Im Hinterhof befanden sich die Werkstätten, die Handwerker wohnten in der Beletage. „Anders als heute wurden die Leute umso ärmer, je höher man die Etagen hochging“, erzählt Jaworek. Er zeigt historische Fotos von autofreien Straßen und gibt weitere Auskunft über Straßennamen.
Die Pelargusstraße hieß beispielsweise früher Beethovenstraße, doch als mehrere Dörfer rund um Stuttgart eingemeindet wurden, kam der Komponist gleich mehrmals vor. Ein neuer Name musste her, und die Kunstgießerfamilie Pelargus kam zu Zug. „Die Nazis haben sich da auch gerne an das traditionelle Bürgertum angebiedert“, sagt Jaworek. In den 70er Jahren wurde in Stuttgart auch der Denkmalschutz für das Lehenviertel und seine Gründerzeithäuser entdeckt. Monika Hoke aus Weilimdorf und ihr Partner Horst-Ulrich Weißer aus Giebel fühlten sich bestens unterhalten. „Und man lernt bei jeder Führung immer etwas dazu“, sagt Weißer.
Wolfgang Jaworek wünscht sich mehr Grün für sein Quartier und hofft, dass die Wanderbäume nur der erste Schritt für die dauerhafte Anpflanzung von Bäumen an der Liststraße sind. Und auch die heutigen Architekten nimmt er in die Pflicht: „Die Gebäude von heute sind die Denkmäler von morgen“.